Wer sich mit medizinischen Fachbüchern auskennt, weiß, dass es oft umfangreiche Wälzer sind. Einige Standardwerke der Anatomie zum Beispiel haben deutlich über 1000 Seiten. Versteckt in einem kleinen Kapitel von nicht mehr als 30 Seiten geht es dort um Faszien. Und eigentlich steht dort nichts weiter, als dass Faszien eine Stütz-und Gleitfunktion für die Muskeln haben.
Mit anderen Worten: bisher waren die Faszien für die Medizinwelt fast ohne Bedeutung.
Seit wenigen Jahren aber wird überall sowohl bei medizinischen Fachleuten als auch bei Laien von „Faszienarbeit“ geredet. In Gesundheitssendungen im TV wurde öfter über die Bedeutung von Faszien berichtet. Mehr und mehr Physiotherapeuten bieten Faszienarbeit an, Tendenz steigend. Man kann regelrecht von einer Faszien-Hype reden.
Eine Therapie-Methode, die schon seit den 1950iger Jahren auf eine gezielte Art an den Faszien des Körpers mit großem Erfolg arbeitet, ist das Rolfing. Jedoch waren die wissenschaftlichen Belege für die unbestreitbar klaren Erfolge etwas dünn. Rolfer wussten, dass ihre Methode funktioniert, man wusste, dass es die Faszien sind, die die positiven Veränderungen ermöglichten, aber man wusste nicht genau warum.
Der Münchner Rolfing-Therapeut Robert Schleip wollte dazu beitragen, dass diese Zusammenhänge wissenschaftlich aufgedeckt werden. In Zusammenarbeit mit der neurologischen Abteilung der Universität Ulm und einer weiteren wissenschaftlichen Institution in England hat er seit einigen Jahren Faszienforschung betrieben.
Diese Erkenntnisse sowie die wissenschaftliche Bestätigung für bisherige theoretische Erklärungen sind bedeutungsvoll und haben das wilde Interesse an den Faszien entfacht, das Ärzte und Physiotherapeuten an den Tag legen. Dies besonders auch, weil es neue Erkenntnisse über Schmerzen des Bewegungsapparates gibt.
Man bedenke: in den Medien wird von Zeit zu Zeit wiederholt erwähnt, dass es in Deutschland etwa 8 Millionen Menschen mit Rückenschmerzen gibt. Das erstaunliche ist, dass diese Zahl über die letzten 30 Jahre hinweg nie abgenommen hat. Das erklärt, warum Ärzte, Physiotherapeuten und andere sich mit großer Hoffnung auf die Erkenntnisse der neuen Faszienforschung stürzen.
Unser Körper ist so aufgebaut, dass um das Knochenskelett herum und, an den Knochengelenken durch die Sehnen befestigt, die Muskeln liegen. Die wiederum werden von einer weißen Schicht, den Faszien, umhüllt.
Sie sind Teil des Bindegewebes unter der Haut und durchziehen netzwerkartig den gesamten Körper: alle Muskeln und Muskelfasern, und alle Organe sind von diesen Faszien umhüllt. Sie sind aufgrund ihrer feinen Struktur ein besonders sensibles Gewebe, und anfällig für Schädigungen. Gesunde Faszien sind elastisch und haben geordnete, im Wesentlichen parallel verlaufende Fasern.
Eine erste wichtige Erkenntnis der neuen Faszienforschung ist, dass die Faszien, anders als man bisher dachte, von vielen Nervenenden und Rezeptoren durchzogen sind.
Die zweite - einigen altbekannt - aber nunmehr endlich bewiesene Erkenntnis: wenn es zu Verletzungen oder z.B. aufgrund von chronischen Muskelverspannungen zu lokalen Entzündungen im Körper kommt, dann führt das zu einer Verfilzung und Verklebung der umliegenden Faszienschichten.
Die Schmerzen, die man als Folge fühlt, sind oft nicht Schmerzen der Muskeln, sondern Schmerzen der Nervenenden in den Faszien.
Zum Beispiel sind Schulterschmerzen weit verbreitet. Die neue Forschung hat in dieser Situation nachgewiesen, dass meist das rote Fleisch der Muskeln wunderbar in Ordnung ist, aber das umliegende weiße Fleisch, die Faszien, verfilzt ist. Das gleiche gilt für viele andere Schmerzsituationen im Körper, auch natürlich die weit verbreiteten Rückenschmerzen: nicht Muskeln und Knochen sind oft der Hauptakteur bei Schmerzen, sondern kleine Risse und Wunden, aber auch Verfilzungen und Verklebungen der Faszien sind der eigentliche Grund. Falsche Signale kommen dadurch zu den umliegenden Muskeln mit der Folge, dass diese verkrampfen und nicht mehr entspannt und locker bewegt werden können.
Ähnliches gilt auch dort, wo unzweifelhaft Knochen oder Knorpel an der Problematik beteiligt sind, wie z.B. bei Bandscheibenvorfällen, Meniskusschäden, Hüft- oder Kniegelenkbeschwerden. Die Ursachenkette sieht ohne Ausnahme so aus: zuerst werden Muskeln über einen längeren Zeitraum verspannt gehalten. Anschließend reagieren die umgebenden Faszien mit Verfilzungen und Verklebungen. Erst dann als spätere Folge davon kommt es zu Schädigungen an Bandscheibe, Meniskus oder Gelenk. (Die eine akute Bewegung, die dann plötzlich eine Bandscheibe oder den Meniskus schädigt, hat immer eine lange Vorgeschichte).
Eine weitere neue Erkenntnis: Faszien ziehen sich unter Stress welcher Art auch immer zusammen, sogar unabhängig davon, ob sich die Muskeln selbst in der betreffenden Stresssituation auch anspannen oder nicht. Dies erklärt, warum Schmerzsituationen so hartnäckig sein können, selbst bei Menschen, die durch Gymnastik, Yoga, Stretching oder Sport viel für die Lockerheit ihrer Muskeln tun.
Die neuen Forschungserkenntnisse haben dazu geführt, dass Physiotherapeuten und andere Weiterbildungen in einem Format von Faszienarbeit machen, das auf ihren Praxisalltag zugeschnitten ist.
Faszienarbeit ist eine manuelle Behandlung der Faszien, die dadurch zeitlupenartig mit teils sanftem, teilweise tiefem, wohldosiertem Druck wieder elastisch gemacht werden.
Toni Kroos ist Profifußballer. Er war im Weltmeister-Team von Brasilien und spielt jetzt für Real Madrid. In den vergangenen Jahren war er öfter verletzt oder hatte Schmerzen in den Beinen wegen Überlastungen und musste deswegen häufiger pausieren. Nachdem er eine längere Zeit lang in München bei einem Physiotherapeuten mit Faszienarbeit behandelt wurde, sind seine Beine nicht mehr so anfällig für Probleme und Schmerzen. Schon seit langem fällt er für seinen Sport-Beruf kaum noch aus.
Man braucht nicht ein Toni Kroos zu sein, um von dieser Arbeit zu profitieren. Immer wenn Schmerzen durch eine akute Verletzung oder Überlastung entstanden sind und nicht von alleine verschwinden, ist die Faszienarbeit, wie sie von Physiotherapeuten und anderen angewendet wird, eine geeignete Methode.
Wenn man jedoch Schmerzen an Gelenken oder anderen Körperteilen bekommt, ohne dass man sich an einen konkreten Anlass erinnert, wenn sich die Schmerzen also ins Leben eingeschlichen haben.
Oder wenn man sich, was die eigene Körperhaltung und Körperstruktur betrifft, etwas krumm, gebeugt, verdreht, schief oder aus dem Gleichgewicht geraten fühlt, egal ob mit Verspannungs-schmerzen oder ohne. Oder wenn man – ohne körperliche Probleme zu haben – für den Sport, Beruf oder einfach fürs Leben einen aufrechten, entspannten, beweglichen Körper haben will, ist Rolfing die Methode der Wahl.
Der Name stammt von der Begründerin Ida Rolf, die ihre Methode schon vor vielen Jahren in den USA entwickelt hat. Es ist eine umfangreiche, ca. 2-3jährige Ausbildung, in der zum einen sehr fundiert Faszienarbeit gelernt wird. Man kann mit Rolfing also auch Verletzungen und Überlastungen kurieren. Aber das Konzept des Rolfing bezieht zum anderen als wichtigen Faktor die Verbesserung der Körperhaltung, korrekter gesagt die Verbesserung der Körperstruktur, in den Veränderungsprozess mit ein, und geht dadurch einen bedeutenden Schritt weiter.
Dies soll an einem Beispiel veranschaulicht werden. Der männliche Klient auf dem Foto kam zum Rolfing hauptsächlich wegen jahrelanger, starken Schmerzen im oberen Rücken, den Schultern und dem Nacken, verbunden mit häufigen Kopfschmerzen. Jemand, der in physiotherapeutischer Faszienarbeit ausgebildet ist, wird in dieser Situation nur die Körperteile behandeln, an denen die Schmerzen sind. Ein geschulter Rolfer sieht sofort, dass die Brustwirbelsäule zu stark gebogen ist und dadurch der Hals/Kopf eine weite Vorlage bekommt. (siehe Foto).
Das ist einerseits optisch nicht schön. Wichtiger jedoch für die Schmerzsituation ist, dass bei so einer Körperstruktur die Schwerkraft, die meist unbemerkt auf uns allen lastet, den Oberkörper im Laufe der Zeit immer weiter nach unten drücken will, die Muskeln und die Faszien an der Rückseite des Körpers ständig dagegen ankämpfen müssen und mit der Zeit überlastet werden und Schmerzen verursachen. Ein Kopf, der sich auf entspannte Art senkrecht über den Schultern befindet, wäre dagegen im Einklang mit der Schwerkraft, Muskeln und Faszien am Rücken, den Schultern und Nacken könnten dann locker bleiben. Bei dem Mann auf dem Foto befindet sich die wichtigste Faszienverklebung um das Zwerchfell, dem Atemmuskel tief im oberen Bauch. (An dieser Stelle des Körpers spürt man vielleicht, wenn man ein aufmerksamer Mensch ist, eine leichte Anstrengung beim Atmen, aber fast nie Schmerzen). Ein Rolfer wird hier also primär die Faszien ums Zwerchfell lockern müssen und dadurch den ganzen Oberkörper aufrichten, auch optisch sichtbar, wie das rechte Foto zeigt, zehn Rolfing-Sitzungen später aufgenommen. Nur sekundär geht es um die Bearbeitung der Körper-Rückseite. Diese Vorgehensweise behebt die körperstrukturellen Ursachen der Schmerzen, die durch diese Behandlung dauerhaft verschwinden können.
Die eben beschriebene Aufrichtung der Wirbelsäule ist nur beispielhaft. Rolfing ist nicht nur fokussiert auf die Verbesserung der Wirbelsäule, sondern individuell, von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, auf eine Verbesserung der Körperstruktur von Kopf bis Fuß. Zum Beispiel gibt es auch Menschen, bei denen die Verbesserung der Struktur der Beine die wichtigste Arbeit ist, um Rotationen im Hüft-, Knie-, oder Fußgelenksbereich zu begradigen.
Und schließlich noch folgendes: in einigen der Faszienverklebungen, die für eine schlechte Körperstruktur verantwortlich sind, steckt unsere seelische und energetische Vergangenheit. Wenn wir als Kind z.B. öfter wütend waren, oder als heranwachsender Mensch z.B. viel Traurigkeit erfahren mussten und uns nicht getraut haben, die Gefühle auszudrücken. Wenn wir als Kind in der Familie still sein mussten, wenn Erwachsene reden, und wir uns mit unserer Energie verstecken mussten. Wenn wir z.B. für Lebendigkeit getadelt wurden, weil wir lieber vernünftig sein sollten. Wenn wir als Kind nicht kindlich verspielt sein durften, sondern auf Ehrgeiz getrimmt wurden. Alle diese beispielhaften alten Situationen können, wenn man als Klient es will, beim Rolfing an die Oberfläche kommen und dadurch verarbeitet werden.
Ida Rolf nannte die Faszien auch ein „Organ der Erinnerung“. Rolfing-Faszienarbeit an den Körperstruktur-Problembereichen kann wie ein spannender Film in die eigene Vergangenheit sein. Nicht als Selbstzweck, sondern um hinterher mehr als zuvor im berühmten „Hier und Jetzt“ leben zu können.
Der Autor dieses Artikels Manfred Wittneben ist seit 30 Jahren certified advanced Rolfer und in seiner Praxis in Hannover-List sowie in Bochum tätig.
Siehe zum Thema Rolfing auch die zentrale Webseite: www.rolfing.org
Wer einen TV-Beitrag über Faszien sehen möchte: gehen Sie in die Internetseite von rolfing.org und dort in den link quarks&co.
Die Faszien-Behandlung von Toni Kroos wurde in der Sendung Gesundheit vom 09.10.2012 im BR gezeigt.
Neben dem Rolfing sowie der physiotherapeutischen Faszienarbeit gibt es einige andere Methoden, die alle eine gewisse Ähnlichkeit mit Rolfing haben, ohne Rolfing zu sein: u.a. Rebalancing, Posturale Integration PI, Heller Work, Structural Release, Strukturelle Integration nach Dr. Ida Rolf (auch dieses nicht zu verwechseln mit Rolfing).
Die zurzeit so populären Faszienrollen oder Black Rolls sind ein gutes Hilfsmittel, aber auch nicht mehr als das. Sie sind kein Ersatz für Yoga, Feldenkrais usw. Sie bewirken natürlich auch keine Körperstruktur-Verbesserungen wie Rolfing.
Manfred Wittneben hat das Copyright an diesem Artikel und den Fotos.
Mit dem "Rolferblick" wird der Patient analysiert. Dann beginnt der "Bildhauer am Menschen" mit dem Umbau.